Gestatten Sie eine kurze persönliche Vorbemerkung. Ich habe aus gesundheitlichen Gründen seit Monaten keine öffentlichen Termine mehr wahrgenommen und werde das auch künftig nur in sehr beschränktem Umfang tun können. Hierher bin ich heute trotz anderslautender Vorhersagen gekommen, weil ich mich der SPD-Bundestagsfraktion besonders verbunden fühle und weil ich meiner Partei gerade in diesen Tagen und Wochen meine Solidarität bekunden will. Sehen Sie mir nach, wenn ich heute nicht ganz so sicher und stimmkräftig auftreten kann, wie Sie mich vielleicht von früher her in Erinnerung haben. Und auch dafür, dass ich bei dem, was ich sage, auch den 27. September im Auge habe, bitte ich um Verständnis. Denn es ist für mich wohl die einzige Gelegenheit, mich dazu zu äußern.

Das Grundgesetz und die Bundesrepublik sind im Frühjahr dieses Jahres sechzig Jahre alt geworden. Das wurde gebührend gefeiert. Aber es gibt noch mehr Sechzigjährige. So etwa - und deswegen sind wir ja heute zusammen gekommen - die SPD-Bundestagsfraktion. Nur wenige Meter von hier entfernt hat sie sich nach der ersten Bundestagswahl am 31. August 1949 konstituiert. In dieser Sitzung wurden Kurt Schumacher zum Fraktionsvorsitzenden und Erich Ollenhauer und Carlo Schmid zu seinen Stellvertretern gewählt. Als der nach Helmut Schmidt älteste noch lebende Fraktionsvorsitzende bin ich eingeladen worden, aus diesem Anlass hier das Wort zu nehmen.

Das ist eine nicht ganz einfache Aufgabe. Denn eine einigermaßen umfassende Darstellung der spezifischen Fraktionsgeschichte müsste unter anderem auf die Veränderungen ihrer Zusammensetzung, ihrer inneren Struktur, ihrer materiellen und personellen Ausstattung, ihrer Arbeitsweise und ihres öffentlichen Erscheinungsbildes in den letzten sechzig Jahren eingehen. Sie müsste sich wohl auch mit dem häufig fehlgedeuteten Stichwort des sogenannten Fraktionszwanges beschäftigen und das Verhältnis zu den anderen Bundestagsfraktionen untersuchen. Dafür fehlt aber die Zeit und dafür fehlen mir auch - das gebe ich ohne weiteres zu - die notwendigen Detailkenntnisse für die Jahre, in denen ich selbst der Fraktion nicht angehört habe. An einer solchen Darstellung arbeitet erfreulicherweise Friedhelm Boll, der dieser Tage für die Friedrich-Ebert-Stiftung einen bemerkenswerten Bildband zur Geschichte der Fraktion herausgegeben hat und dabei insbesondere auf das Bildarchiv von Jupp Darchinger zurückgreifen konnte.

Ich will statt dessen das Wirken der Fraktion in einen allgemeineren Zusammenhang stellen und mich hauptsächlich mit der Frage beschäftigen, was sie zum politischen Wirken der deutschen Sozialdemokratie und damit zur Entwicklung der Bundesrepublik von 1949 bis heute beigetragen hat.

Das tue ich, indem ich zunächst noch einmal einen Blick auf die bisherige Geschichte der Bundesrepublik werfe und mit Entschiedenheit ein weiteres Mal konstatiere: Diese Geschichte ist gerade auf dem Hintergrund der vorausgegangenen Jahre des NS-Gewaltregimes eine Erfolgsgeschichte, für die es in unserer Historie kaum eine Parallele gibt. Als Stichworte nenne ich nur das Zustandekommen des Grundgesetzes, das sich bis heute hervorragend bewährt, den Wiederaufbau der vom Luftkrieg zerstörten Städte, die Eingliederung von über zwölf Millionen Flüchtlingen und Heimatvertriebenen, den wirtschaftlichen Wiederaufstieg aus Not und Elend, der uns noch im letzten Jahrhundert zur weltweit führenden Export- und Handelsnation werden ließ, die Entwicklung eines leistungsfähigen sozialen Sicherungssystems, die baldige Rückkehr in die Völkergemeinschaft, die Verleihung des Friedensnobelpreises an Willy Brandt und damit bereits fünfundzwanzig Jahre nach Kriegsende an einen deutschen Bundeskanzler, die Westintegration, die Ostpolitik und den durch sie ermöglichten Helsinki-Prozess, die Zeit der inneren Reformen und der Integration wesentlicher Teile einer kritisch gewordenen jungen Generation, die schrittweise - aber noch keineswegs abgeschlossene - Realisierung des Gleichberechtigungsprinzips, die Wahrung der staatlichen Schutzfähigkeit gegenüber den terroristischen Anschlägen der RAF, das wachsende Umweltbewusstsein, die spät beginnende, dann aber zunehmend intensivere Auseinandersetzung mit der Ideologie und den Verbrechen des NS-Gewaltregimes, die Rückkehr der jüdischen Gemeinschaft in die Mitte unserer Gesellschaft, die friedliche Revolution in der seinerzeitigen DDR, die ohne einen Tropfen Blutvergießen siegte, den Fall der Mauer, das Zustandekommen der deutschen Einheit und nicht zuletzt den Fortgang der europäischen Einigung, dem wir es ganz wesentlich verdanken, dass wir seit über sechzig Jahren in Frieden leben. Deshalb kann ich nur immer wieder betonen: Wenn uns einer all das 1945 in der Kriegsgefangenschaft so vorausgesagt hätte - wir hätten ihn schlichtweg für verrückt erklärt. Und auch diejenigen, die sich vier Jahre später zur konstituierenden Sitzung der Fraktion versammelten, haben das sicherlich so nicht vorausgesehen.

Eines füge ich für die jüngere Generation noch ausdrücklich hinzu - nämlich: Ihr haltet heute Frieden in Europa für selbstverständlich. Für meine Generation galt das Gegenteil - Krieg war selbstverständlich! Diesen grundlegenden Wandel und seine Ursachen solltet Ihr Euch immer wieder vor Augen führen!

Natürlich könnte ich jetzt auch eine Liste von Fehlentscheidungen, Irrtümern und unnötigen Verzögerungen aufzählen. Oder von Herausforderungen, die gerade in letzter Zeit gewachsen sind und bisher nicht hinreichend bewältigt wurden, wie etwa die hohe Arbeitslosigkeit, die demographischen Veränderungen, die Integration der Migranten oder die sich verbreiternde Kluft zwischen Arm und Reich. Und nicht zuletzt die Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus, der sich ganz ungeniert nationalsozialistischer Parolen und Mittel bedient. Oder die Probe, auf die die gegenwärtige Bank-, Finanz- und Wirtschaftskrise unser Land stellt. Aber an meinem Gesamturteil ändert das nichts. Ich sehe auch nicht ein, warum gerade bei einer solchen Gelegenheit das Negative in den Vordergrund gerückt werden sollte. Das geschieht ja heutzutage oft genug. Und mitunter ja fast gewohnheitsmäßig.

Zu dieser Erfolgsgeschichte hat die deutsche Sozialdemokratie entscheidende Beiträge geleistet. Und zwar nicht nur die Partei, sondern eben auch die Bundestagsfraktion. Das sollten wir öfter und nachdrücklicher in Erinnerung rufen. Nicht weil wir die Beiträge der anderen demokratischen Kräfte in Abrede stellen. Und erst recht nicht aus Selbstüberhebung, sondern um den Menschen deutlich zu machen, warum sie uns vertrauen können. Erinnern sollten wir dabei auch an unsere historischen Fundamente, auf die gestützt wir seit bald einhundertfünfzig Jahren für Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität und für Demokratie und Frieden kämpfen. Oder auch daran, dass die Sozialdemokratie bis zuletzt vor dem heraufziehenden Unheil des Nationalsozialismus gewarnt hat und dass ihre Reichstagsfraktion am 23. März 1933 die einzige war, die in namentlicher Abstimmung das Ermächtigungsgesetz ablehnte. Auch des Widerstandes, den Sozialdemokraten und Sozialdemokratinnen während der Jahre des NS-Gewaltregimes unter Einsatz von Leben und Freiheit leisteten, sollten wir immer wieder gedenken. Und ohne beides gleichzusetzen auch des Widerstandes vieler Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten gegen die zweite Diktatur auf deutschem Boden.

Es würde zu weit führen, wenn ich nun alle Zusammenhänge aufzählen wollte, in denen die Sozialdemokratie auf die politische Entwicklung der Bundesrepublik maßgebenden Einfluss genommen, ja sie geradezu gestaltet hat. Nur als Beispiel nenne ich

den Aufbau demokratischer Strukturen nach 1945. Hier war schon der Wiederaufbau der Partei von Bedeutung, den Kurt Schumacher von Hannover aus noch im April 1945 energisch in Gang setzte. Die meisten Sozialdemokraten, die sich da wieder zusammenfanden, waren auch schon vor 1933 politisch aktiv gewesen und brachten ihre Erfahrungen ein. Einer von ihnen war Paul Löbe, Reichstagspräsident von 1920 bis 1932, der als Alterspräsident die erste Legislaturperiode des Bundestages am 7. September 1949 mit einer heute noch lesenswerten Rede eröffnete. Bedeutsam war auch, dass die westdeutsche Sozialdemokratie - wieder unter dem maßgebenden Einfluss Kurt Schumachers - jede Kooperation und erst recht die Vereinigung mit den Kommunisten entschieden ablehnte und diese in der Sowjetischen Besatzungszone nur unter Zwang zustande kam. Die Urabstimmung in West-Berlin im März 1946 setzte hier ein besonders eindrucksvolles Zeichen. Wie ja Berlin überhaupt erst mit Louise Schröder und Ernst Reuter ein Vorposten der Freiheit und dann von Willy Brandts Zeiten an auch der Ort war, an dem die ersten konkreten Schritte unternommen wurden, um die Folgen der Teilung zu mildern.

Dann eben die Ost- und Deutschlandpolitik Willy Brandts, die auf der Westintegration der Bundesrepublik unter Konrad Adenauer aufbaute und die Helmut Schmidt auf seine Weise mit der Förderung des Helsinkiprozesses und der Unterzeichnung der Schlussdokumente fortgesetzt hat. Das waren unentbehrliche Voraussetzungen für die deutsche und die europäische Einigung. Das sah die Union bekanntlich anders. Sie wollte Helmut Schmidt durch den Bundestag die Unterzeichnung der Schlussdokumente verbieten lassen, weil sie nur der Sowjetunion zusätzliche Macht und Einfluss verschaffen würden. Ein historischer Irrtum!

Ebenso die großen innenpolitischen Reformen, die unter der Devise standen „Mehr Demokratie wagen“. Unter dieser Devise gelang es Willy Brandt auch, eine sehr beträchtliche Anzahl der sogenannten Achtundsechziger für die Demokratie und für unsere Partei zu gewinnen. Auch der Ausbau der Sozialsicherungssysteme und der Anstoß zur Aufnahme einer verbesserten Mitbestimmung in die Unternehmensverfassung stammen aus jener Zeit.

Weiter ist an die Bewältigung der beiden Ölkrisen zu erinnern, die unsere Wirtschaft in den siebziger Jahren durchaus zu erschüttern drohten. Oder an die Überwindung der Herausforderung, die in den Entführungsaktionen der RAF im Herbst 1977 gipfelten. Für mich war dies die größte Leistung Helmut Schmidts. Mit seiner besonnenen Entschlossenheit meisterte er diese Angriffe auf die Schutzfähigkeit des Staates, ohne rechtsstaatliche Prinzipien zu verletzen. Daran, dass beides möglich ist, sollten wir uns gerade jetzt gelegentlich erinnern. Oder auch an den Fortgang der europäischen Einigung, die durch das von Helmut Schmidt zusammen mit Giscard d’Estaing durchgesetzte gemeinsame Währungssystem kräftige Impulse erhielt.

Auch in der Zeit der Opposition haben wir unserem Land in vielfältiger Weise gedient. So haben wir in der Umweltpolitik - etwa zur Nutzung erneuerbarer Energien -, in der Kinderförderung und in der Bildungspolitik schon damals konkrete Vorschläge gemacht, die von anderen erst jetzt, also mit langer Verzögerung allmählich akzeptiert worden sind. Von der Frauenquote gilt ähnliches. Und auch den Atomausstieg haben wir seinerzeit auf die Tagesordnung gesetzt.

Einen gravierenden Beitrag haben wir entgegen allen Verdächtigungen und Zweifeln, die bis in die jüngste Zeit immer wieder geäußert werden, gerade auch zum Zustandekommen der deutschen Einheit geleistet. Sicher haben sich damals Sozialdemokraten auch widersprüchlich geäußert und Sonderpositionen eingenommen. So etwa der seinerzeitige Kanzlerkandidat. Er wollte beispielsweise im November 1989 den DDR-Staatsbürgern die bundesdeutsche Staatsangehörigkeit entziehen und so ihre weitere Übersiedlung in die Bundesrepublik unterbinden. Auch wollte er die Währungsunion verhindern. Aber die Partei und die Fraktion sind ihm nicht gefolgt. Wir haben vielmehr am Einigungsprozess konstruktiv mitgearbeitet und unsere Entscheidungen stets am konkreten Stand der Entwicklung, die ja unglaublich stürmisch verlief, orientiert.

Übrigens: Der jetzt wieder häufig zitierte Zehn-Punkte-Plan Helmut Kohls, den er am 28. November 1989 im Bundestag vorlegte, stimmte komplett mit dem Fünf-Punkte-Konzept überein, das ich in derselben Sitzung am 28. November 1989 als erster Redner vorgetragen habe. Richtig ist, dass 25 Mitglieder unserer Fraktion gegen die Währungsunion gestimmt haben. Aber wer weiß denn noch, dass 13 Mitglieder der Unionsfraktion den Einigungsvertrag abgelehnt haben, ja dass 8 von ihnen sogar das Bundesverfassungsgericht anriefen, um die Beschlussfassung zu verhindern?

Auch haben wir nicht weniger Kontakte zu den oppositionellen Kräften in der DDR unterhalten als andere, sondern eher mehr. Das Papier „Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit“ hat diesen Kräften nach deren eigenen Bekundungen geholfen und nicht geschadet. Und oppositionelle Kräfte haben - vom Präsidium der Partei schon unmittelbar danach anerkannt und unterstützt - am 7. Oktober 1989 in Schwante aus eigenem Entschluss eine sozialdemokratische Partei der DDR gegründet, während die Union eine Block-CDU übernahm, deren Kader sich noch im Herbst 1989 zur offiziellen SED-Linie bekannt hatten.

Aber auch der Bilanz der von Gerhard Schröder geführten Regierung brauchen wir uns wahrlich nicht zu schämen. Dazu drei Stichworte:

Einmal das Nein zum Irakkrieg. Wer bekennt sich denn heute in der Bundesrepublik, in Europa, ja auch in den USA noch zu einem Ja? Überall ist der Krieg und seine Begründung als Irrtum erkannt. Aber wie wäre es wohl gelaufen, wenn seinerzeit die Union das Sagen gehabt hätte?

Dann die Agenda 2010. Ich weiß, dass sie bis heute nicht unumstritten ist. Aber ich will mit meiner Meinung dazu, die ich von Anfang an vertreten habe, auch hier und heute nicht hinter dem Berg halten. Sie war und ist nach meiner Einschätzung im Kern schon deshalb richtig, weil sie fühlbar zum Sinken der Arbeitslosigkeit beigetragen hat.

Und zum Dritten der Ausstieg aus der Atomenergie. Dieser Ausstieg ist unverändert richtig. Wir haben damit ein Versprechen aus dem Jahre 1986 erfüllt und bewiesen, dass wir zu nachhaltiger Politik über eine lange Zeitstrecke hin fähig sind.

Schließlich verweise ich auch noch auf die sozialdemokratischen Leistungen in der Großen Koalition der letzten vier Jahre. Unsere Handschrift ist da auf den meisten Gebieten deutlich zu erkennen. Auch und gerade in den bisherigen Antworten auf die große Banken-, Finanz- und Wirtschaftskrise. Da haben wir nicht abgewartet und moderiert, sondern konkrete Maßnahmen vorgeschlagen und durchgesetzt.

Ich meine, diese keineswegs vollständige Liste kann sich wahrlich sehen lassen.

Aber wo ist nun in diesem Geschehen der Platz der Bundestagsfraktion, deren Jubiläum wir heute feiern? Ihr Platz ist naturgemäß zuerst im Bundestag, dem ihre Mitglieder auf Grund ihrer demokratischen Legitimation angehören. Sie ist aber nicht minder ein selbstverantwortlicher Teil der Partei, die sie ja im Bundestag repräsentiert. Sie bildet sozusagen die Brücke zwischen beiden. Ihre zentrale Aufgabe war und ist es, sich an den programmatischen Aussagen der Partei zu orientieren und diese unter Beachtung der jeweiligen Gegebenheiten und Möglichkeiten und der parlamentarischen Spielregeln im Bundestag in praktische Politik umzusetzen. Zu diesem Zweck bedarf sie der kontinuierlichen öffentlichen Präsenz und des ebenso kontinuierlichen Kontakts mit den Menschen und den gesellschaftlichen Organisationen. Und natürlich der regelmäßigen Abstimmung mit den Führungsorganen der Partei.

Steht sie in der Opposition, wird sich das in der Regel in Anträgen und Vorlagen niederschlagen, die ihre Haltung gegenüber der Politik der jeweiligen Bundesregierung deutlich machen. Dabei kann es durchaus auch Punkte geben, in denen man mit der Regierung übereinstimmt. Häufiger sind indes die Fälle, in denen der Regierung eigene Alternativen für eine bessere Politik entgegengesetzt und öffentlich vertreten werden müssen.

Ist sie Regierungsfraktion, geht es um konkrete Entscheidungen und vor allem um konkrete Gesetzgebung im Rahmen einer Koalition. Immer wieder kommt es dabei auch zu Spannungsverhältnissen mit der eigenen Partei oder der eigenen Regierung. Und das insbesondere dann, wenn in der Fraktion selbst die Meinungen auseinandergehen. Diese Spannungsverhältnisse sind bis in die Gegenwart zumeist vernünftig bewältigt worden. Das war mitunter schwierig. Und im Falle der Notstandsgesetzgebung, des Doppelbeschlusses oder der Agenda 2010 sogar sehr schwierig.

Die Fraktion war deshalb seit ihrer Konstituierung im Jahre 1949 bis heute stets ein gewichtiger Faktor der Politik. Als solcher war sie an der Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik und an den von mir angesprochenen besonderen Leistungen der Sozialdemokratie ganz wesentlich, manchmal sogar ausschlaggebend beteiligt. Ohne sie wäre nichts von dem, was ich da beschrieben habe, zustande gekommen.

Darüber hinaus gab es aber auch spezifische Initiativen der Fraktion, mit denen sie ihr Gewicht im Bundestag und innerhalb der Partei zur Geltung brachte. Wiederum kann ich dafür nur einzelne Beispiele nennen.

So die Fälle, in denen während der Regierungszeit Konrad Adenauers sozialpolitisch relevante Vorlagen nur mit Hilfe der SPD-Fraktion eine Mehrheit erlangten, weil es in der Koalition zu viele Gegenstimmen gab. Das war unter anderem so bei der Einführung der paritätischen Montanmitbestimmung im Jahre 1951, beim Betriebsverfassungsgesetz 1952, beim Personalvertretungsgesetz 1953 und bei der großen Rentenreform des Jahres 1957, die die Renten dynamisierte. Auch das erste Wiedergutmachungsabkommen mit Israel - das sogenannte Luxemburger Abkommen - wäre im Jahre 1952 gescheitert, wenn ihm nicht unsere Fraktion zugestimmt hätte.

Starken Einfluss nahm die Fraktion auch im Jahre 1956 auf die sogenannte Wehrverfassung, der die Prinzipien des Bürgers in Uniform und der sogenannten Parlamentsarmee zugrunde lag. Vor allem Fritz Erler engagierte sich hier und setzte sich dabei mit den Kräften in der Partei und der Fraktion auseinander, die jede Mitwirkung an der Wiederbewaffnung ablehnten oder sie doch mit großen Bedenken begleiteten.

Eine relevante Rolle spielten nicht wenige Fraktionsmitglieder auch bei den Bemühungen um die programmatische und die strukturelle Erneuerung der Partei Ende der fünfziger Jahre. Hier ist wiederum Fritz Erler, aber ebenso Adolf Arndt, Herbert Wehner und Helmut Schmidt sowie Heinrich Deist und Erwin Schöttle zu nennen, die beide zu Unrecht in Vergessenheit geraten sind.

In diesen Zusammenhang gehört auch die berühmte Rede, die Herbert Wehner als stellvertretender Fraktionsvorsitzender am 30. Juni 1960 im Bundestag hielt. Diese Rede korrigierte die bisherige außen- und deutschlandpolitische Linie der Partei und anerkannte die bis dahin erreichte Westintegration. Für die spätere Ostpolitik war dies eine entscheidende Voraussetzung.

Erinnert werden muss auch an die großen Bundestagsdebatten der vergangenen Jahrzehnte. Etwa an die anlässlich der von der damaligen Bundesregierung beabsichtigten Bewaffnung der Bundeswehr mit Atomwaffen im Jahre 1958 oder an die, die 1972 dem gescheiterten Misstrauensvotum gegen Willy Brandt und 1982 dem Misstrauensvotum gegen Helmut Schmidt vorausgingen. Da hat die Fraktion jeweils eine hervorragende Rolle gespielt.

Wahrgenommen hat die Fraktion in den vergangenen sechzig Jahren auch stets ihre Pflichten im Rahmen der parlamentarischen Kontrolle der Bundesregierung. Dabei traten diese Pflichten in den Zeiten der Opposition stärker in den Vordergrund. So sind auf Betreiben der Fraktion zwischen 1949 und 1966 nicht weniger als zehn und in der Zeit von 1982 bis 1998 acht Untersuchungsausschüsse installiert worden. In den gleichen Zeitabschnitten hat sie zusammen 430 Große und 1.554 Kleine Anfragen gestellt. Aber auch als Regierungsfraktion blieb sie da nicht untätig.

Geprägt wurde die Fraktion seit ihrem ersten Zusammentritt immer wieder von starken Persönlichkeiten, von denen die meisten aus ihr selbst hervorgegangen sind. Das gilt für Fritz Erler, Herbert Wehner und Helmut Schmidt, die ich bereits nannte. Und nicht minder für Carlo Schmid und Adolf Arndt. Oder für Annemarie Renger und Käthe Strobl. Kurt Schumacher und Erich Ollenhauer waren hingegen bereits anerkannte Führungspersonen in der Partei, als sie den Fraktionsvorsitz übernahmen. Auch Willy Brandt hat sich bei seinem Aufstieg eher auf sein Wirken als Regierender Bürgermeister von Berlin als auf die Jahre gestützt, in denen er von 1950 bis 1957 dem Bundestag und damit der Fraktion angehörte. Bedeutsam war für ihn aber auch diese Zeit.

Denen, die ich soeben namentlich erwähnt habe, aber auch allen, die bis heute Mitglieder der Fraktion waren - insgesamt sind das 1.187 Männer und 225 Frauen - oder die für sie gearbeitet haben, gebührt gerade am heutigen Tag unser Dank. Ohne sie könnten wir nicht mit Stolz auf den Beitrag der Fraktion zu den großen Leistungen der deutschen Sozialdemokratie blicken. Dich, lieber Peter Struck, schließe ich ausdrücklich in diesen Dank ein, weil Du als achter Nachfolger Kurt Schumachers die Fraktion von 1998 bis 2002 und dann noch einmal von 2005 bis heute geführt hast und nun in den wohlverdienten Ruhestand trittst. Du hast Dich wahrlich um unsere Sache und um unser Land insgesamt verdient gemacht.

Warum gedenken wir eigentlich Ereignissen, die jetzt schon Jahrzehnte zurückliegen? Und warum tun das gerade wir Sozialdemokraten? Wir tun es, um uns zu vergewissern, woher wir kommen. Denn auch in einer Zeit stürmischer Veränderungen weiß nur der, der weiß, woher er kommt, auch wo er sich befindet und wohin ihn sein Weg führt. Wir erinnern uns auch, um daraus Kraft zu schöpfen. Die Generationen vor uns haben schwerere Proben bestanden als wir. Aber sie haben am Ende jeweils die besseren Antworten gegeben.

Auch heute haben wir die besseren Antworten. Antworten, die der Gier und der Profitsucht Einhalt gebieten und dem Turbokapitalismus insgesamt Schranken setzen und so eine Wiederholung der gegenwärtigen Krise verhindern. Die mit der sozialen Verantwortung des Staats, des Gemeinwesens und des einzelnen Unternehmens Ernst machen. Und die auf billigen Populismus verzichten. Unser Regierungsprogramm und insbesondere der Deutschlandplan sind dafür besonders überzeugende Beispiele. Ich selbst kann mich jedenfalls auf Anhieb an keinen Text erinnern, der vor einer Wahl die Situation unseres Gemeinwesens so gründlich und überzeugend analysiert und so klare Ziele für das umrissen hätte, was jetzt geschehen muss. Fürwahr eine hervorragende Leistung! Und das auch deshalb, weil es auf billige Polemik verzichtet und eben gerade keine Versprechungen macht. Das legt die Frage nahe, was die Mitbewerber dem eigentlich entgegensetzen. Bislang waren es die üblichen abwertenden Standardformeln, aber keine detaillierte Kritik in der Sache und erst recht keine eigenen Alternativen. Das spricht für sich!

Die da vor sechzig Jahren hier zusammengetreten sind, wären es zufrieden. Und sie würden Frank-Walter Steinmeier zustimmen und ihm für die nächsten vier Wochen weiterhin die Kraft und die Entschlossenheit wünschen, die er bisher an den Tag gelegt hat. Und uns würden sie auffordern, an seiner Seite zu kämpfen. Denn nur wer kämpft kann gewinnen. Wer nicht kämpft, hat schon verloren. Und wir wollen gewinnen, wir wollen wieder mit einer starken Fraktion in den Bundestag einziehen und den Kanzler stellen, nicht um unserer Macht willen - die ist nur ein notwendiges Mittel, aber kein Selbstzweck -, sondern um unserem Volke dienen und es in eine gute Zukunft führen zu können. So wie wir es in den letzten sechzig Jahren getan haben.